Vom Start auf dem WWE Network im Frühjahr 2014 erlebte die Brand einen Wandel. Ursprünglich als Show gestartet, um den Nachwuchs aufzubauen und zu fördern, machte WWE aus NXT bald eine „Super-Indie-Promotion“. Als TNA brach lag und die US-Fans, die es mit Raw und SmackDown nicht aushielten, auf Ring of Honor und New Japan Pro-Wrestling schielten, konnte NXT nahezu jedes Talent bekommen, das man haben wollte. Das wieder populärer werdende Wrestling abseits von WWE wurde abgegraben und mit einer hochwertigen TV-Produktion aufgepimpt. Gegen die finanziellen Ressourcen von WWE kam keine Indie-Promotion an, zumal WWE alternativlos das Ziel eines jeden Wrestlers war, der auf der größten Bühne antreten und das beste Gehalt verdienen wollte.
Das Publikum, das sich von Raw und SmackDown nicht angesprochen fühlte, wuchs über die Jahre. Und damit konnte der Independent-Markt gestärkt werden, zumal New Japan Pro-Wrestling ein Exil für jede Menge Top-Talente bot. Die Konstellation der vorhandenen Wrestler (inklusive bedeutender Namen) im Independent-Bereich und das vorhandene Interesse einer TV-Zusammenarbeit von Time Warner, eröffnete im Laufe 2019 die Möglichkeiten für Tony Khan, sein AEW-Projekt zu schmieden. Dies ist vor allem deshalb für die Geschichte relevant, weil sich daraus der Start von „Dynamite“ und der direkte Konkurrenzkampf mit „NXT“ im US-Kabelfernsehen am Mittwoch ergab.
Die Entscheidung, „NXT“ vom WWE Network auf das USA Network umziehen zu lassen und als direkte Konkurrenz für „Dynamite“ zu positionieren, hat die schwarz-goldene Brand für immer verändert – und für viele Fans nicht zum Besseren. War die wöchentliche, bis dahin einstündige Show der vorsichtige Begleiter zu den TakeOver-Shows, um die sich immer alles drehte, mussten jetzt jede Woche zwei TV-Stunden auf die Beine gestellt werden, die bestenfalls das Publikum begeisterten. Die kreative Erfüllung blieb jedoch aus, zudem hatte der Kader längst einige der besten Leute an Raw und SmackDown verloren. Lücken, die bis heute nicht adäquat gefüllt werden konnten.
WWE NXT Star Pete Dunne bei einem Festival-Event in England
Bei WWE und in der Fernsehindustrie war man sich sicher, dass die etablierte NXT-Brand aus dem Hause WWE den Neuling AEW in die Knie zwingen könnte. Heute wissen wir: Es kam komplett anders! Als NXT und USA Network am 7. April 2021 aufgaben, hatte AEW 63 von 75 direkten Vergleichen für sich entscheiden können. Zwei Mal erreichten beide Shows nahezu identische Zuschauerzahlen, 10-mal lag NXT vor AEW. Auch wenn es WWE in der Außendarstellung gern anders formuliert hatte, ging es bei der direkten Programmierung von NXT im Kabelfernsehen gegen AEW darum, der neuen Konkurrenz einen möglichst schlechten Start zu ermöglichen. Das gelang nur bedingt. Und man könnte argumentieren, dass NXT den größeren Schaden davongetragen hat. Zwar bietet die Show weiterhin solide Wrestling-Unterhaltung, aber ist eben nicht mehr jedermanns Liebling wie noch vor wenigen Jahren.
VINCE McMAHON SENDET ENTLASSUNGS-SIGNAL
Die vergangenen zwei Jahre haben allem Anschein nach einen Eindruck auf WWE-Boss Vince McMahon hinterlassen. Vor einigen Wochen besuchte McMahon das Performance Center in Orlando, um sich einen Eindruck von den vorhandenen Talenten zu verschaffen. Zumeist an seiner Seite: Bruce Prichard, mit dem er bereits in den Achtzigern und Neunzigern lange zusammenarbeitete, der mittlerweile kreativen Einfluss gewonnen hat. Seitdem waren mehrere NXT-Talente bei den Raw- und SmackDown-Produktionen anwesend und bestritten Dark-Matches. Shotzi, Nox und Karrion Kross haben es seitdem in die Shows geschafft und wurden bei NXT abgezogen.
Talente, die Vince nicht gefielen, sind dagegen in der Zwischenzeit entlassen worden. Am 6. August fiel die Entscheidung gegen gleich 13 Namen aus dem Kader. Dafür sorgten Vince McMahon, Bruce Prichard und der alte/neue Talent-Chef John Laurinatis – und das, so ein Bericht vom „Wrestling Observer Newsletter“, an NXT-Leiter Triple H und seinem engsten Vertrauten Shawn Michaels vorbei. Dies schockierte ganz offensichtlich viele der NXT-Talente und -Mitarbeiter, Moral und Stimmung sanken auf ein Allzeit-Tief.
Daraus abzulesen ist ein Machtspiel, das es hinter den Kulissen von WWE zu geben scheint – und aufkommenden Zweifeln an Triple H als kreativer Kopf einer Brand. Ob gerechtfertigt oder nicht, geben ihm hinter den Kulissen zumindest einige hochrangige Mitarbeiter die Schuld an der Niederlage von NXT gegen AEW. Tatsächlich war NXT im Kampf gegen AEW die Wrestling-Show der Woche mit dem ältesten Publikum, dabei sollte die Aufmachung das Gegenteil suggerieren. Ist das NXT-Team mit der Führungsspitze also nicht die Antwort auf das Problem von WWE, ein neues, junges Publikum aufbauen zu müssen? Natürlich spielen zahlreiche Faktoren mit hinein, wie der Quotenkampf zwischen AEW und NXT letztlich ausgegangen ist. Als Kopf der Brand muss sich Triple H der Kritik stellen und Verantwortung übernehmen.
Triple H mit WWE NXT United Kingdom Champion Walter (Quelle: Twitter.com/TripleH)
JETZT WIRD SICH DIE BRAND VERÄNDERN
In Zukunft wird NXT jetzt wieder das werden, was es ursprünglich sein sollte. Nämlich das Sprungbrett zu Raw und SmackDown. Nicht mehr die glorifizierte „Super-Indie-Show“, die aber auch kaum mehr möglich ist, da alle größeren Talente längst bei AEW oder WWE unter Vertrag stehen. Mit McMahon und seiner vertrauten Mitarbeiter-Garde sollen jetzt wieder Wrestler in den Vordergrund rücken, die zuerst einmal die entsprechende Optik mitbringen – das ist traditionell bei WWE Größe und ein austrainiertes Erscheinungsbild. Außerdem sollen Neuverpflichtungen in Zukunft unter 30 sein, eben auf die Zukunft ausgerichtet.
Ob sich WWE einen Gefallen damit tut, die Grenzen wieder enger zu stecken, was ein Talent mitbringen soll und wie es auszusehen hat, wird sich zeigen. Gerade das vergangene Jahrzehnt hat bewiesen, dass die Fans von heute nicht mehr allein davon angezogen werden, ob ein Wrestler 1,90 m groß ist und einen wohltrainierten Körper hat. Vielleicht hat sogar die Vielfalt gerade für eine neue Popularität gesorgt. Aber vielleicht funktioniert es im Mainstream immer noch in erster Linie mit der Optik und den „Larger-Than-Life“-Superstars - falls WWE diese ausfindig machen kann.
NXT soll in den kommenden Wochen eine veränderte Optik erhalten. Und mit der Ansage, wieder deutlich auf den Aufbau junger Wrestler zu setzen, dürfte sich mittelfristig inhaltlich einiges verändern. Mit der Rückbesinnung auf Entwicklungsarbeit kann man sich NXT aber schwer als zweistündige Fernsehshow vorstellen. Denn hier müssen auch die etablierten Namen aufgefahren werden, um die TV-Zuschauer bei der Stange zu halten. Will man NXT wieder eher so ausrichten, wie es vor 2014 mal war, dann wäre die Sendung wahrscheinlich wieder in einem einstündigen Format auf dem WWE Network am besten aufgehoben. Keine Frage: Hinter der zukünftigen Ausrichtung von NXT stehen noch viele Fragezeichen.
Dass die Show weiterhin im Performance Center verbleibt, keine Live Events angesetzt werden und vor allem auch das TakeOver-Event nicht vor Publikum in Las Vegas gebracht wurde, spricht eine eindeutige Sprache. Hinzu kommt, dass einige Shows jetzt wieder vorab aufgezeichnet werden, statt wöchentlich live gezeigt zu werden – eine Kosteneinsparung.
AUSWIRKUNGEN AUF DIE WWE-ZUKUNFT
Die mittelfristige Gestaltung von NXT wird langfristig Raw und SmackDown beeinflussen. Man muss davon ausgehen, dass Triple H und Shawn Michaels weiter am NXT-Ruder bleiben. Aber Vince McMahon wird mit seinem Team ganz offensichtlich Einfluss nehmen wollen. Auch deshalb muss man sich von dem NXT der vergangenen Jahre verabschieden. Es bleibt aber weiterhin die Zukunftsfrage, was das Unternehmen angeht, die sich allein durch Vince McMahons Alter (am 24. August wurde er 76) stellt.
Bisher ging man davon aus, dass Triple H seinen Schwiegervater auf der kreativen Seite beerben würde, während die geschäftliche Seite durch erfahrene Business-Menschen betreut wird, die schon heute im Unternehmen tätig sind; allen voran der neue Top-Manager Nick Khan, der starken Einfluss bei WWE gewonnen hat. Was für NXT gilt, gilt auch für WWE: Das ist nicht mehr die Firma wie noch vor zwei Jahren!
Wie tatsächlich die Würfel fallen werden, wird einzig die Zukunft zeigen. Dass es hinter den Kulissen von WWE aber ganz offensichtlich unterschiedliche Lager und Machtverschiebungen gibt, zeigt allein die Tatsache, dass Triple H bei den Entlassungen „seiner“ Leute übergangen wurde.
WER ALLES GEHEN MUSSTE …
Das führt uns zu der Liste jener Wrestler, die die mittlerweile vierte Entlassungsrunde seit April bei WWE nicht überlebt haben: Es geht um ein Dutzend NXT-Aktive und einen Ringrichter. Darunter mehrere prominente Namen und einige (für McMahons Teams nicht so) hoffnungsvolle Talente.
Bronson Reed – Der 32-jährige Australier kam 2019 zu WWE. Zuletzt hatte er die NXT North American Championship gehalten. Sein letztes Match hatte er bei NXT am 27. Juli gegen Adam Cole. Reed zählte zu den Wrestlern, die von McMahon in den vergangenen Wochen mehrfach bei TV-Tapings in Dark-Matches ausprobiert wurden. Allem Anschein nach traf der Koloss nichts Vinces Geschmack.
Bobby Fish – Der 44-jährige kam 2017 mit ROH- und New-Japan-Erfahrung zu NXT und wurde als Teil der Undisputed Era bekannt. Fish hielt zwei Mal die NXT-Tag-Team-Titel mit Cole/Strong bzw. O’Reilly. In seinem Fall war der Rauswurf ganz klar eine Frage des Alters. Die knallharte, aber aus McMahon-Sicht auch verständliche Einstellung: Wer bereits weit über 30 bzw. wie Fish deutlich über 40 ist und allem Anschein nach niemals bei Raw oder SmackDown landen wird, braucht auch nicht länger bezahlt zu werden.
Jake Atlas – Der 26-jährige unterschrieb im Herbst 2019 einen Vertrag und kam als vielversprechendes Indie-Talent zu NXT. Zuletzt sahen wir ihn auch bei 205 Live, unter anderem gegen Ariya Daivari und Tony Nese (beide wurden kürzlich ebenfalls rausgeworfen).
Bei WWE NXT entlassen: Bronson Reed
Leon Ruff – Der 25-jährige unterschrieb im Herbst 2020 einen WWE-Vertrag, zuvor hatte er bereits einige Auftritte absolviert. Unter anderem als Jobber bei Raw. Im November 2020 gewann Ruff die NXT North American Championship von Johnny Gargano. Daraus resultierte aber mehr eine Comedy-Regentschaft.
Mercedes Martinez – Die 40-jährige unterschrieb nach 20 Jahren im Wrestling einen WWE-Vertrag. Wir sahen sie seitdem unter anderem im Royal Rumble 2020 und in mehreren NXT-Rivalitäten. Im vergangenen Jahr war Martinez als „Retaliation“ für einige Wochen Teil der Flop-Gruppierung Retribution. Sie hatte selbst um eine Rückversetzung zu NXT gebeten. Das dürfte ihr am Ende des Tages, gepaart mit dem hohen Wrestler-Alter, nicht in die Karten gespielt haben.
Giant Zanjeer – Der indische Hüne durfte sein Talent beim „Superstar Spectacle“ im Januar unter Beweis stellen. Damals stand er an der Seite von Shanky im Ring, der mittlerweile einen Platz bei Raw gefunden hat. Zanjeer muss ich hingegen nun woanders Arbeit suchen. Für McMahon gilt hier: Wofür braucht es gleich zwei riesige Inder im Kader? Ein Shanky reicht!
Ari Sterling – Der 34-jährige kam Ende 2020 zu WWE und war über die vergangenen Monate regelmäßig bei 205 Live eingesetzt worden.
Asher Hale – Der 36-jährige kam erst kürzlich zu WWE und hatte seit Mai TV-Auftritte bei 205 Live bestritten.
Kona Reeves – Der 30-jährige unterschrieb bereits im Mai 2014 bei WWE. Immer mal wieder wurde er über die Jahre bei NXT im TV eingesetzt, allerdings ergab sich daraus nie etwas Nachhaltiges. Ein ewiges Talent, mit dem man nicht mehr vorhatte. Das mag hart klingen, doch eine solche Entscheidung ist dann nachvollziehbar.
Tyler Rust – Der 34-jährige kam erst im Dezember 2020 zu WWE und wurde im Juni als Teil der neuen „The Diamond Mine“-Gruppe bei NXT offenbart.
Desmond Troy – Denzel Dejournette unterschrieb im Juli 2018 bei WWE. Er kam mit einigen Erfolgen aus dem College-Sport (Ringen). 2020 hatte Troy einige wenige TV-Auftritte bei Raw und SmackDown als Jobber. In der ersten Jahreshälfte 2021 fiel er aus. Am 29. Juni verlor Troy dann ein Qualifying-Match für das NXT-Breakout-Turnier gegen Joe Gacy. Sein letzter Auftritt vor Kameras!
Zechariah Smith – Ein früherer Pro-Basketball-Spieler, der im Januar 2020 sein Training bei NXT aufgenommen hatte.
Sowie der NXT-Ringrichter Stephon Smith (31).